Marcel R. Bernhardsgrütter

In letzter Zeit ist viel darüber zu lesen, dass es weniger Pastoren benötige. Stattdessen brauche es – je nach persönlicher Prägung des Autors – Apostel, Lehrer, Leiter oder gar Unternehmer und Manager. Stehen die Pastoren vor dem Aus?

Argumentiert wird, dass es nicht mehr länger Hirten benötige, welche die Herde eng zusammenhalten, sondern Macher, die in und mit der Gemeinde etwas bewegen. So unterschiedlich die Ansichten sind, so einheitlich ist der Befund: Die Tage des Pastors sind gezählt. Was ist davon zu halten? Hat der Pastor im digitalen Zeitalter westlicher Prägung wirklich ausgedient? Oder handelt es sich bei diesen Forderungen um einen vorübergehenden Trend? Ich glaube: Weder noch.

1.  Vom romantischen Pastor

Wie so oft in ‚christlichen‘ Diskussionen wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der diskutierte Begriff für alle Beteiligten allgemeinverständlich ist, also alle dieselbe Auffassung davon haben, wie und was ein Pastor ist. Mehr noch: Es wird vorausgesetzt, dass seine Bedeutung von allen Beteiligten im biblischen sowie gemeindlichen Kontext richtig erfasst wird und deshalb alle über dasselbe sprechen. Wobei dann gerade die jeweilige Diskussion offenbart, dass dem nicht so ist.

Deshalb lohnt es sich, den Begriff ‚Pastor‘ etwas näher zu betrachten. Das Offensichtliche vorweg: ‚Pastor‘ (lat.) meint ‚Hirte‘. Im weiteren Verlauf werde ich deshalb zur Vereinfachung den Begriff ‚Hirte‘ verwenden.

Im biblischen Kontext wird deutlich, dass Jesus selber der grosse Hirte ist (Joh 10; Mt 26,31; Heb 13,20; 1 Pet 5,4; Offb 7,17). Gemeindeleiter und Älteste sind in dieser Logik Hilfshirten, welche dem grossen Hirten bei seiner Arbeit helfen (Joh 21,16-17; Apg 20,28; 1 Pet 5,2), denn es ist und bleibt Seine Herde (Jes 40,11).

Damit wir die einleitende Frage beantworten können, müssen wir verstehen, was die Aufgabe des Hirten alles beinhaltet. Und genau hier liegt das eigentliche Problem.

Denn sehr wahrscheinlich haben die vielen idyllischen Bilder aus Kirchengeschichte und Kinderbibeln das ihre dazu getan, dass wir heute ein sehr statisches Bild eines Hirten haben. Das Weiden der Schafe stellen wir uns heute so vor, die Herde auf einer Wiese unter einem Baum zusammen zu halten und vor Feinden zu schützen. In dieser Sichtweise besteht die Hauptaufgabe des Hirten vor allem darin, die Harmonie zwischen den Schafen einigermassen zu wahren und darauf zu achten, dass möglichst keines verloren geht.

In der Folge kann, ja darf ein Hirte gar nicht leiten, da jede Art von Bewegung unerwünscht ist. Veränderung ist genauso wenig erwünscht wie die Reflexion über den Status quo – man könnte ja feststellen, dass die Aue nicht mehr grün und das Wasser nicht mehr frisch ist. Deshalb wird der Status quo bewahrt und selbst bei offensichtlicher Dysfunktionalität verteidigt. Denn das oberste Ziel ist es, die Schafe zusammenhalten.

2. Zum realistischen Pastor

Es braucht nicht viel, um zu erkennen, dass dieses romantische Bild des Pastors mit seiner Herde unter dem Baum vielleicht die Seele erwärmt, aber herzlich wenig mit der Realität zu tun hat. Psalm 23 und Joh 10 geben uns ein ganz anderes Bild. „Hüte meine Schafe“ (Joh 21,16) meint eben gerade nicht das krampfhafte Zusammenhalten der weissen Wollknäuel am Ort, sondern die vorausschauende Leitung derselben.

Das Umland von Bethlehem, wo David seinen bekanntesten Psalm (23) schrieb, ist karg und steppig. Da bringt es nichts, wenn man die Schafe unter einem Baum versammelt und dort bleibt. Bereits nach wenigen Tagen ist das Grün abgegrast und der Rest zertrampelt. Die Herde muss weiterziehen. Sie muss dies natürlich in angemessenen Tempo tun, damit junge, alte und schwache Schafe gleichermassen nachkommen. Hirte zu sein bedeutet in diesem Verständnis, die gesunde Mischung aus Rasten am Wasser und Aufbruch zu neuen grünen Auen zu finden.

Dies erfordert zuallererst einen gesunden Weitblick, damit man erkennt, wann der Herde die Nahrung ausgehen wird und wo es neue „grüne Auen“ gibt. Dann ist es die Aufgabe und Pflicht des Hirten, die Herde zu sammeln und aufzubrechen, indem er selber vorangeht.

3. Folgerungen

Aus diesem ganzheitlicheren Verständnis der Aufgabe eines Hirten ergeben sich gleich mehrere Erkenntnisse, welche für die Praxis von Bedeutung sind:

  • Ein Hirte ist immer auch ein Leiter, denn er geht der Herde voran. Wer die Herde nicht leiten, sondern nur zusammenhalten will, kann auch nicht für sich in Anspruch nehmen, Hirte zu sein.
    Hingegen kann man durchaus ein Leiter sein, ohne Hirte zu sein, doch dies sprengt den Rahmen dieser Betrachtung.
  • Gleiches gilt für die Lehre: Ein Hirte ist immer auch ein Lehrer. Seine Leiterschaft – also die Art, wie er die Herde führt – besteht ja gerade aus seinem Vorangehen und seiner Lehre. Wenn der Hirte undeutlich oder widersprüchlich spricht und nicht vorangeht, entsteht Verwirrung unter der Herde.
    Natürlich gilt auch hier, dass man Lehrer sein kann, ohne Hirte zu sein.
  • Wenn ein Hirte auch ein Leiter ist, muss er dann auch visionär sein, wie es oft gefordert wird? Ja und nein. Er muss nicht visionär sein im wirtschaftlichen Sinne, dass er Ziele formuliert wie viele Mitglieder seine Gemeinde bis in fünf Jahren haben soll. Denn das hat herzlich wenig mit Vision zu tun. Hingegen soll ein Hirte die Vision der Gemeinde lebendig halten, wie sie uns die Bibel vor Augen malt. In diesem Sinne muss ein Hirte sogar ausgesprochen visionär sein, da die Herausforderungen des Gemeindealltags das gesunde Bild der Gemeinde arg zu verzerren drohen.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass es auch heute noch sehr wohl Pastoren braucht und immer brauchen wird, die ihre Aufgabe als Leiter der Herde wahrnehmen und dafür besorgt sind, dass diese erhält, was sie für ihr Gedeihen benötigt. Dieses Hirtenamt können weder Apostel noch Unternehmer und auch keine Manager übernehmen.

Marcel Bernhardsgrütter lebt in der Schweiz und ist Co-Pastor und Church Consultant mit über zwanzigjähriger Erfahrung als leitender Mitarbeiter in zahlreichen Dienstbereichen verschiedener Landes- und Freikirchen sowie als Manager im Dienstleistungssektor. Er begleitet Gemeindeleiter in Veränderungsprozessen und Führungsfragen als Sparringspartner an ihrer Seite.  www.mrbhg.com