Wolf-Dieter Hartmann

Grenzen bieten zum einen Schutz, zum anderen können Sie aber auch eine Behinderung sein. In diesem Artikel wollen wir uns vor allem mit der Schutzfunktion von Grenzen beschäftigen. Wenn wir also über Grenzen der Seelsorge in der Gemeinde sprechen, sollten wir zunächst einen Blick auf den Raum innerhalb der Grenzen werfen. Was geschieht an Seelsorge in der Gemeinde? Dann gilt es, einen Blick auf das zu richten, was es außerhalb der Gemeinde gibt. Und dann braucht es Kriterien für die Bestimmung von Grenzen.

 

Seelsorge innerhalb der Gemeinde – das normale Miteinander

Seelsorge ist ein Schlüssel für die Entwicklung einer Gemeinde. Wo immer Menschen zusammen kommen, entsteht eine Dynamik. Wir reagieren auf Stimmen, Bewegungen, Verhaltensweisen, Aussagen. Andere reagieren auf uns. Menschen wecken durch ihr Verhalten Erwartungen, Hoffnungen. Wir setzen Erwartungen und Hoffnungen in Menschen. Durch Menschen kommen wir mit uns selbst in Berührung. Unser Selbstbild wird bestätigt oder in Frage gestellt, verborgene,

unerwünschte Gedanken und Gefühle werden offenbar…

 

Kleines Beispiel?

Überlegen Sie mal: der Pastor teilt die Gemeinde in kleine Gruppen zu viert ein. Er bestimmt,

wer in welche Gruppe kommt. Sie finden in ihrer Gruppe Gemeindeglieder vor, die sie sich

nicht selbst ausgesucht haben. Menschen, neben die sie sich nicht freiwillig im Gottesdienst

setzen würden (darf es das geben?). Was denken Sie? Was fühlen Sie bei dieser Vorstellung?

Freude? Dankbarkeit? Ärger, Empörung, Unsicherheit..? Vielleicht finden sie aber auch diejenigen in der Gruppe, bei denen ihr Herz jubelt. Jetzt geschieht Erweckung…

 

Ein Beispiel aus unserem Leben:

Als unsere Kinder klein waren, haben meine Frau und ich einige Male Kinder aus anderen

Familien betreut, wenn die Eltern nicht verfügbar waren. So hatten wir einmal einen 1,5

jährigen Jungen für 3 Wochen im Haus. Wir sind das Ganze sehr optimistisch angegangen

nach dem Motto „Das schaffen wir mit links“. Innerhalb von einigen Tagen waren wir total an

unseren Grenzen. Dieses Kind roch anders, schrie anders und verhielt sich anders als unsere

Kinder. Dazu kam, dass unser Sohn (2,5) sich vehement gegen diesen „Eindringling“ wehrte.

Dieses Kind brachte uns mit Herzenshaltungen in Berührung, die wir vorher nicht für möglich

hielten.

 

All diese Situationen in der Begegnung mit Menschen bieten also die Chance, dass unser Herz

offenbar und unser Selbstbild korrigiert wird. Wenn wir denn dazu bereit sind. Und hier setzt

das Feld der Seelsorge ein. In einer Zweierschaft, in einer Kleingruppe kann ich anderen mein

Herz zeigen, kann damit vor Gott kommen und ihm mein Herz hinhalten und um

Veränderung bitten. Die Tatsache, dass andere über mein Herz Bescheid wissen, befreit von

Angst und Unsicherheit wenn es in einer Atmosphäre der Annahme und Vergebung geschieht.

 

Auch hier ein Beispiel:

In einer Kleingruppe soll einer beginnen von seinen Schwierigkeiten im Glaubensleben zu

erzählen. Kann man das? Was denken die anderen, wenn sie von meinen Schwierigkeiten

hören? Die anderen haben doch sicher keine Probleme – nur ich. Als diese Person dann

zögerlich davon berichtet, wie schwer es ist mit der Stillen Zeit, kam von den anderen in der

Gruppe spontane Beipflichtung. Was, du auch? Das geht mir auch so…. Neben der Erleichterung, dass man selbst nicht der Einzige mit diesem Problem ist, entstand aus dieser Gruppensitzung ein Unterstützungsprogramm zur Neugestaltung der Zeit mit Gott. So ist also Seelsorge eine gegenseitige Unterstützung zur Verarbeitung der göttlichen Herzensoffenbarung, die in der menschlichen Begegnung geschieht. Hier können wir lernen zu lieben, zu tragen, anzunehmen, höher zu achten, sich selbst zu verleugnen… und die ganze Palette des neuen Menschen (Achtung, es geht nicht um

Eigenleistung, sondern um die Annahme der Gnade, damit die Frucht des Geistes wachsen

kann).

 

Die Begleitung von Menschen in schwierigen Situationen

Neben diesem Normalfeld der Seelsorge kommen wir auch mit speziellen Problemen in

Berührung. Unsere Entwicklungsgeschichte tragen wir auch nach unserer Bekehrung in uns.

In den Herausforderungen des Alltags werden diese unbewältigten Situationen der

Vergangenheit schmerzhaft bewusst oder wir kommen nur mit dem Schmerz in Berührung,

ohne ein Bewusstsein für die Wurzel dieses Schmerzes zu haben. Ob in der Ehe oder in der Kindererziehung: wir haben unsere Art Konflikte anzugehen oder mit Unterschieden umzugehen. Die Gedankenfestungen, die wir ausgebaut haben, um uns zu schützen ebenso wie Haltungen des Stolzes, der Bitterkeit, der Rebellion und der Dominanz. Die Ursachen für die Krisen unsrer Alltagsbewältigung sind vielfältig. Hierfür ist es sehr hilfreich, wenn wir Menschen zur Seite haben, die sich in diesem Wurzelwerk der Verstrickungen auskennen und die uns helfen können, eine Sprache für unsere eigene Befindlichkeit oder Lösungsansätze für unsere brennenden Fragen zu entwickeln. Und dies ist der zweite Bereich der Seelsorge. Menschen, die durch Schulung und Erfahrung ihre soziale und seelsorgerliche Kompetenz erweitert haben, um anderen in kritischen Zeiten zur Seite zu stehen.

 

Begleitung von Menschen mit psychischen Belastungen

Ereignisse unserer Vergangenheit werden unterschiedlich verarbeitet. Manches wird

verdrängt, manches vergessen. Nicht immer gelingt das. Manche Ereignisse sitzen so fest und

sind gleichzeitig so präsent, dass das ganze Leben davon beeinflusst wird. Ich denke hier

besonders an traumatische Erlebnisse aus der Kindheit. Dazu kommen die Störungsbilder, die in der Psychopathologie mit Begriffen wie Depression, Schizophrenie und Zwang beschrieben werden.

Hier gerät der Seelsorger sowohl hinsichtlich der Ausbildungs- und Erfahrungskompetenz als

auch der Gesetzeslage in unserem Land an die Grenzen. (Diese ist allerdings sehr unscharf

und bezieht sich vorwiegend auf die Verwendung von Begriffen wie Psychotherapeut oder

Psychotherapie). Auf jeden Fall ist für einen Seelsorger die Kooperation mit einem Arzt/

Psychotherapeuten sinnvoll, sobald der Verdacht auf Nähe zur Heilkundeausübung besteht

und keine Heilkundezulassung vorliegt. Solch ein Verdacht liegt nahe, wenn jemand mit dem

Hinweis in die Seelsorge kommt, dass der Arzt bei ihm z.B. eine Depression diagnostiziert

hat. Die folgende Auflistung soll eine Unterstützung sein hinsichtlich der Kooperation mit einem

Spezialisten in der Begleitung von Menschen mit psychischen Störungen in der Gemeinde.

 

Ratsuchender wurde als „psychisch krank“ diagnostiziert: Häufige Beispiele: Angstsymptome, Zwangsneurose, (endogene) Depression ,Melancholie, manisch depressive Erkrankung, Zyklothymie, „Psychose“,Schizophrenie, Borderline, Suchtproblematik…

 

 Gefahrensituation:  Du hast den Verdacht, dass der Ratsuchende sich selbst oder

andere gefährden oder sogar umbringen könnte oder du erlebst dich durch eine dir

fremde und/oder bedrohliche Symptomatik oder Problematik

verunsichert/überfordert.

 

Körpermedizinisches Problem: Du hast den Verdacht, dass bei deinem

Ratsuchenden eine körperlich medizinische Problematik (im Zusammenhang mit

den seelischen Problemen) in Frage kommt. Jede für dich nicht sicher erklärbare

körperliche Beschwerdesymptomatik reicht für diesen Verdacht aus, besonders,

wenn sie nicht nach kurzem verschwindet.

 

In diesen Fällen ist die Absprache mit einem Facharzt oder Psychotherapeuten

unbedingt anzuraten.

 

Es geht ja in erster Linie um die beste Begleitung für den Ratsuchenden und nicht um

einen Beweis, dass man es auch ohne Spezialisten schafft. An dieser Stelle ein paar Hinweise , was man auf keinen Fall machen sollte:

 

Dem Ratsuchenden sagen, er brauche keinen Arzt.

Dem Ratsuchenden gegen den ärztlichen Rat sagen, er solle die Medikamente absetzen

Ohne die Erlaubnis zur Heilkundeausübung eine Diagnose erstellen!

Eine Beurteilung im Sinne von „Du wirst nur nicht geheilt, weil du nicht glaubst…“

 

Supervision – ein Muß für Seelsorger

 

Eine besondere Hilfe für Seelsorger in der Gemeinde ist eine regelmäßige Supervision

mit einem Spezialisten (Arzt, Psychotherapeut, Christlicher Berater,…) der sich in

diesem Feld auskennt und mit dem ich meine Fragen durchsprechen und/oder

durchbeten kann. Im Idealfall ist dieser Spezialist Christ. Zumindest sollte er dem

christlichen Glauben nicht ablehnend gegenüberstehen.

 

In allem – Gott ist der Herr

 

Im Schreiben dieses Artikels wird mir bewusst, dass nicht alle Fragen und

Möglichkeiten angesprochen werden können. Manches bleibt unausgesprochen, anderes

wird nur angerissen während einiges besonders hervorgehoben wird.Auf keinen Fall soll die heilende Kraft Gottes außer Acht gelassen werden. Gott hat die Macht, in jeder Situation unseres Lebens einzugreifen und Leben zu verändern. Aber immer erwartet Gott auch den Einsatz unseres Willens. Wir sind für unseren Lebenswandel verantwortlich. (Lk 11,24-26) Jesus bringt in diesem Beispiel von dem Jüngling, der von Dämonen frei wurde, klar zum Ausdruck, dass es nicht nur um ein

Freiwerden von Störungen geht, sondern um den Prozess der Heiligung. So sollen wir mutig im Rahmen unserer Möglichkeiten handeln, danach trachten, unsere Grenzen zu erweitern und auf dem Weg die realistische Einschätzung behalten, dass wir die Grenzen erkennen und nutzen können.

 

Wolf-Dieter ist  Dipl.-Psychologe und Leiter bei IGNIS des Bereichs Gemeinde und Seelsorge und verantwortlich für die 2-jährige Seelsorgeschulung. www.ignis.de/