Klaus Korhohnen

Die Gemeinde im biblischen Sinn ist keine statische, sondern eine sich entwickelnde Gemeinschaft. Sie ist ein Organismus, ein lebendiger Leib. Um leben zu können, muss sie sich entwickeln. Veränderung gehört zum Wachstum.

DAS PARADOXE WACHSTUM

Gemeindewachstum ist ein Begriff, der in christlichen Kreisen viel gebraucht wird. Allgemein wird damit das quantitative, das zahlenmäßige Wachstum gemeint. In diesem Sinn durfte die Urgemeinde in Jerusalem eine Periode des starken Wachstums erfahren: „Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem“ (Apostelgeschichte 6,7).

Meistens jedoch, wenn es um das Wachstum geht, wird im Neuen Testament das geistliche Wachstum gemeint. Dieses Wachstum hat einen anderen Charakter und kann nicht in Zahlen gemessen werden. Der Apostel Paulus beschreibt es so: „Lass uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“ (Epheser 4,15). Eine echte Beziehung zu Christus bewirkt – so Paulus – in natürlicher Weise ein qualitatives Gemeindewachstum, das besonders in den zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar wird.

Die Bibel stellt auch eine eigentümliche Dimension des Wachstums vor, indem Johannes der Täufer sagt: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3,30). Ein Beispiel aus der Natur kann dieses „negative Wachstum“ veranschaulichen: Ein Getreidehalm kann fast zwei Meter hoch werden. Um die Ähre zu tragen muss der Halm äußerst stabil werden. Darum kann er nicht ununterbrochen nur wachsen. Nach einer Phase des Längenwachstums entwickelt der Halm „Knoten“, die die Stabilität des Halms verstärken. Die Entstehung der Knoten scheint eine Stagnation des Wachstums zu bedeuten. Ohne diese Stagnation könnte aber der Halm nie in Wind und Regen die Ähre tragen. Für die Stabilität des Wachstums können auch „trockene Perioden“ bedeutsam sein.

NICHT VERÄNDERUNG UM DER VERÄNDERUNG WILLEN

Das starke Verlangen nach Wachstum kann eine Gemeinde in Veränderungszwang bringen. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Veränderung um der Veränderung willen und einer Veränderung, die Raum für weiteres Wachstum schenkt. Das Bedürfnis nach Veränderung ist sowohl im eigenen Gemeindeleben als auch im persönlichen Leben schwer zu erkennen. Darum ist es wichtig, dass Jesus als Herr der Gemeinde uns den richtigen Weg und die wunden Punkte zeigt. Diesbezüglich hat besonders die Leiterschaft der Gemeinde eine wichtige Verantwortung.

Manche Gemeinden haben auch durch einen geistlich reifen und qualifizierten außen-stehenden Ratgeber wertvolle Wegweisung bekommen. Als Gegensatz zur Veränderung ist das Wort ‚Tradition‘ in manchen erneuerungsorientierten christlichen Kreisen fast ein Schimpfwort geworden. Das ist schade, denn es gibt Tradition, die uns schützt und bereichert. Ich hörte einen interessanten Vortrag von einem Fachmann der Psychiatrie. Er sagte, dass gesunde Menschen – auch junge Menschen – für ihre Entwicklung und ihr geistiges Gleichgewicht Traditionen brauchen. Dass wir einen gewissen Lebensrhythmus haben, gehört zur guten Tradition. Dass wir am Sonntag in den Gottesdienst gehen, ist eine gute Tradition. Dass wir regelmäßig in der Bibel lesen und immer wieder geliebte geistliche Lieder singen, ist etwas Gutes. Und trotzdem ist es wichtig, jede Tradition, sei es persönlich oder in der Gemeinde, immer wieder zu überprüfen und zu reflektieren.

FESTUNGEN, DIE VERÄNDERUNG VERHINDERN

Es gibt auch Traditionalismus, der jedes Leben und besonders alles Neue, das aufkeimt, effektiv erstickt. Paulus hat ein sehr deutliches Bild gemalt: Es gibt Festungen, die zu zerstören sind (2. Korinther 10,4 und 5). Es können mitten in der Gemeinde Festungen und Gedankengebäude gebaut werden. Festungen und blockierende Gewohnheiten sind eine Gefahr – und die Gemeinde muss nicht alt sein, um solche zu bilden. Ein an und für sich harmloses Beispiel sind die „Stammplätze“, die man manchmal sehr ungern einem anderen einräumt.

Ein Glaubensbruder erzählte mir, dass es für ihn gar nicht so einfach war, seinen Platz in der Gemeinde zu finden. Er kam das erste Mal in die Gemeinde und setzte sich vorne im Saal hin, um sicher alles mitzubekommen. Bald kam ein elegantes Ehepaar und sagte freundlich zu ihm: „Können sie den Platz bitte uns geben, Sie sitzen auf unserem Platz.“ Der junge Mann war etwas entmutigt, gab aber nicht auf. Nächstes Mal blieb er im Vorraum stehen und wartete, ob ein Freund komme. Er lehnte sich an die Garderobe und hielt sich mit einem Finger an einem Haken fest. Bald kam jemand und sagte zu ihm: “Können Sie bitte Ihren Finger von meinem Haken wegnehmen? Ich hänge meinen Mantel immer an diesen Haken.“

Es ist ein Wunder, dass der Mann noch im Glauben ist! Die Festungen und hohen Gedankengebäude, die man niederreißen muss, sind Einstellungen, die von Egoismus und Lieblosigkeit geprägt sind. Der Egoismus liegt sehr tief im menschlichen Wesen. Wenn der egoistische Geist in der Gemeinde Raum gewinnt, ist es höchste Zeit für ein Umdenken. Die Festungen können in guten Sachen versteckt sein: in Freundeskreisen, Verwandtschaften, Positionen, manchmal auch in Arbeitszweigen und Musikgruppen, wenn sie zu geschlossen sind, um das Gesamtwohl der Gemeinde zu sehen. Die Bereitschaft, auf das Eigene zu verzichten, ist notwendig bei allen Veränderungen, die zum Wachstum der Gemeinde dienen. Die Festungen und die hohen Gedankengebäude sind nicht nur in meiner Gemeinde zu finden. Sie sind in mir. Sie sind in meinem harten Wesen, das so ungern bereit ist, sich zu verändern oder gar Buße zu tun.

VOM NATÜRLICHEN WIDERSTAND ZUM DURCHBRUCH

Der Widerstand bei Veränderungen ist eine natürliche menschliche Reaktion, mit der man immer rechnen muss. In einer Gemeinde muss die Leitung immer zwei Dinge beachten: Erstens muss sie die Gewissheit haben, dass die vorgesehene Veränderung von Gott kommt. Die Gemeinde – sie ist doch die Gemeinde Gottes – merkt das bald. Und zweitens darf man nicht mit menschlichen Waffen beginnen. Sonst kann man in kurzer Zeit auch viel zerstören. Paulus hat geraten, geistliche Waffen zu gebrauchen, von denen die Liebe die erste ist: „Die Liebe erbaut“ (1. Korinther 8,1). Die christliche Gemeinde steht heute vor einer völlig neuen Situation. Der amerikanische Pastor John Burke spricht in seinem Buch „No Perfect People Allowed“ von einer Herausforderung der postmodernen Generation, die durch die rasche gesellschaftliche Entwicklung folgen-dermaßen denkt: Dieser Generation fehlt das Vertrauen in die Institutionen (wie Kirchen), und sie relativiert die Wahrheit. Auf der anderen Seite fühlen sich postmoderne Menschen einsam und zerbrochen. Sie sehnen sich nach Liebe und Annahme, aber vermuten gleichzeitig, dass sie in Kirchen nur Intoleranz begegnen. Durch ein starkes Umdenken hat die Gemeinde des Autors viele erreicht, die früher allen Gemeinden

fern standen. Wichtig dabei war eine neue Atmosphäre der Annahme, die Raum für Gespräch, Suchen und Zweifeln gab. Die Wahrheit und Liebe überzeugt einen Sucher am besten, wenn er sie im Alltag sieht und erlebt. Wichtiger als organisatorische oder institutionelle Veränderungen ist die innere Erneuerung: Das Wort ermutigt uns, dass wir uns ändern durch die Erneuerung unseres Sinnes (Römer 12,2). Das ist für uns Christen eine große Herausforderung zum Wachstum. Es bedeutet Glaubenswachstum in Christus und gleichzeitig Wachstum als Menschen, die offene Augen und Herzen für Mitmenschen haben. Dr. Paul Clark, der für viele Gemeindegründungen im deutschsprachigen Raum wirkte, sagte neulich: „Die Leute werden sich nie bekehren, wenn sie nicht die Leute mögen, die in der Gemeinde sind“. Veränderungen, die dem Willen Gottes gemäß und aus Liebe geschehen, bringen einen frischen Wind in die Gemeinde. Alle freuen sich und können aufatmen. Vor allem geht es um Menschen, die Gott fern stehen. Sie brauchen einen Ort, wo sie ohne Hindernisse Gott erleben und im Glauben wachsen können.

Klaus, geboren in Finnland, wirkte 1974 bis 1984 als Gemeindegründer mit der Freien Christengemeinde in Österreich. Von 1984 bis 2012 leitet er die Saalem-Gemeinde Helsinki, die größte Evangelikale Gemeinde Finnlands. Seit 2012 arbeitet Klaus als Bibellehrer und Mentor in Österreich und Rumänien.