Marcel R. Bernhardsgrütter

Kürzlich fragte mich ein guter Freund und Pastor: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Leiterschaft in einem Unternehmen und Leiterschaft in einer Gemeinde?“ 

Wie so viele Pastoren war auch mein Freund der Ansicht, dass es viel einfacher sei, in einem Unternehmen zu leiten als in einer Gemeinde. Erstens, weil die Mitarbeitenden eines Unternehmens für ihre Arbeit bezahlt werden und zweitens, weil sie bei ungenügender Leistung entlassen werden könnten. In dieser Vorstellung sind die Mitarbeitenden eines Unternehmen motiviert, fähig und sozial kompetent, weil sie für ihre Leistung entschädigt werden und im Bewusstsein arbeiten, dass sie ihre Stelle verlieren könnten. Solche Mitarbeitende wären viel leichter zu führen als die Mitarbeitenden in einer Gemeinde, da Letzteren beide vermeintlichen Anreize fehlen.

Leider entspricht diese Vorstellung nicht einmal ansatzweise der Realität. Auch in einem Unternehmen können Mitarbeitende nicht einfach so freigestellt werden (und das ist gut so). Zudem leben wir in einem Arbeitnehmermarkt. Wer einen Mitarbeiter entlässt, weiss nicht, ob er einen besseren finden wird. Auch die Auswirkungen einer Kündigung auf das allgemeine Arbeitsklima müssen bedacht werden. Sonst gehen am Ende auch diejenigen Mitarbeitenden, die man hätte behalten wollen.

Deshalb müssen selbst Unternehmen mit den Leuten arbeiten, die sie haben. Dabei sind große Schwankungen bezüglich Motivation, Fähigkeiten und sozialer Kompetenz der Mitarbeitenden ganz natürlich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihre Arbeit bezahlt ist. Und die unterschwellige Furcht vor einer möglichen Entlassung wird weder die Motivation noch die gelebte soziale Kompetenz der Mitarbeitenden ansteigen lassen.

Die Faktoren, welche das Leiten in einer Gemeinde vom Leiten in einem Unternehmen unterscheiden (1), sind also gar nicht offensichtlich. Trotzdem gibt es sie. Zwei davon scheinen mir besonders wichtig:

1. In Gemeinden sind nicht nur die Mitarbeitenden Laien, sondern auch die Leiter

Nur die wenigsten Pastoren hatten in ihrer Vergangenheit die Gelegenheit, Führungserfahrungen zu sammeln. So treten sie ihre Stelle an, ohne über die notwendigen Kenntnisse bezüglich Selbstmanagement, Organisationsführung und -entwicklung oder alltägliches Werkzeug zur effektiven Leitung von Personalgesprächen und Sitzungen zu verfügen. 

Damit ist der Pastor bezüglich Leitung ein Laie. In der Praxis erscheint dies als nicht weiter schlimm, da die Gemeinde eine Laienorganisation und der Pastor damit in bester Gesellschaft ist. Diese Haltung ist fatal, weil genau das Gegenteil zutreffend ist: Je laienhafter die Organisation ist, desto kompetentere Leiterschaft benötigt sie, wenn sie sich nachhaltig gesund entwickeln soll. 

Damit sage ich keinesfalls, dass nur Pastor werden kann, wer über Führungserfahrung verfügt. Und noch viel meine ich, dass unsere Gemeinden von Managern geleitet werden sollten. Im Vordergrund stehen immer die Berufung und das Herz eines angehenden Pastors. Diese beiden sind entscheidend, aber noch nicht ausreichend. 

Bei der Anstellung eines Pastors sollten beide – der Pastor und die Gemeinde – auch die bisherige Führungserfahrung thematisieren und unterstützende Massnahmen wie Führungsausbildungen und ergänzendes Mentoring durch eine externe Fachperson definieren.

Dies muss ganz zu Beginn geschehen. Das beschwichtigende „fang einfach mal an und wir schauen dann weiter“ taugt nicht. Die Beziehungen zwischen dem Pastor und den leitenden Mitarbeitenden werden in den ersten Wochen definiert. Diese später in eine neue Richtung zu entwickeln erfordert viel mehr Energie, als ein zielgerichtetes Führungs-Coaching , das viel bewirken und unnötige Frustrationen vermeiden kann.

2. Führung in Unternehmen ist kundenorientiert

Der grösste Unterschied zwischen der Leitung in einer Gemeinde und der Leitung in einem Unternehmen ist die Kundenorientierung. Die einzige Existenzberechtigung eines Unternehmens besteht darin, dass es ein Kundenbedürfnis erfüllt. Wenn sie das nicht tut, wird ihr Produkt oder ihre Dienstleistung nicht gekauft und das Unternehmen geht Konkurs.

Deshalb bedeutet Leiterschaft in einem Unternehmen, absolut alles darauf auszurichten, dass das Kundenbedürfnis so gut und effektiv wie möglich erfüllt und wenn immer möglich sogar übertroffen wird. Genau das ist gemeint mit Kundenorientierung. Ein Unternehmen, das nicht mehr kundenorientiert ist, kann mittelfristig nicht bestehen. 

Und nun kommt der entscheidende Punkt: Jede gute Führungskraft kennt den Unterschied zwischen Mitarbeitenden und Kunden. So, wie das ganze Unternehmen auf die Kunden und deren Bedürfnisse ausgerichtet ist, so sind auch die Mitarbeitenden zuallererst für die Kunden da. Natürlich muss sich jedes Unternehmen auch gut um seine Mitarbeitenden kümmern und alles tun, damit diese das bestmögliche Arbeitsumfeld vorfinden. Dies ist aber nie Selbstzweck, sondern immer im Wissen, dass engagierte, motivierte und gut ausgebildete Mitarbeitende besser in der Lage sind, die Kundenbedürfnisse zu erfüllen.

In Gemeinden ist dies oft anders. Viele Gemeinden werden so geführt, als wären die Mitarbeitenden die Kunden. Woran lässt sich das erkennen? Gottesdienste sind üblicherweise das wichtigste „Produkt“ einer Gemeinde. Wie erwähnt, müssen die Produkte auf die Kundenbedürfnisse zugeschnitten sein. Achte einmal darauf, auf wessen Bedürfnisse eure Gottesdienste zugeschnitten sind, dann weisst du auch, wen ihr als eure Kunden betrachtet. 

Ist in eurem Foyer alles so ausgeschildert, dass sich jede und jeder auf Anhieb zurechtfindet? Gibt es ein Team, welches neue Besuchende freundlich und unaufdringlich willkommen heisst? Sind die einzelnen Elemente des Gottesdienstes fokussiert, ermutigend und auch für suchende Aussenstehende verständlich? Gibt es ausreichend Informationen zu Bibeltexten und zum Gemeindeleben, so dass sich auch Erstbesuchende zurecht finden? Wenn du alle diese Fragen mit „Ja“ beantworten kannst, dann habt ihr stets vor Augen, wer euer „Kunde“ ist. Wenn nicht, habt ihr begonnen, eure Mitarbeitenden zu Kunden zu machen. 

Hier liegt der grösste Unterschied zwischen Leiterschaft in einem Unternehmen und Leiterschaft in einer Gemeinde. Ein Unternehmen könnte es sich niemals leisten, die Mitarbeitenden mit den Kunden zu verwechseln. Es würde innert Kürze von der Bildfläche verschwinden. Eine Gemeinde hingegen kann noch jahrelang vor sich her dümpeln, ohne ihren Auftrag zu erfüllen. 

Doch darin liegt auch ein Funken Hoffnung: Dass der glimmende Docht nicht vollständig ausgelöscht, sondern durch ein neues Verlangen nach Erweckung wieder entfacht wird. Und wenn das geschieht, übersteigt das Mass an Leidenschaft, Engagement und Sozialkompetenz, das bei den Mitarbeitenden freigesetzt wird, bei weitem alles, wovon Unternehmen nur träumen könnten. Damit dies in der Gemeinde geschehen kann, benötigt es Leiterschaft.

1 Zumindest im Dienstleistungssektor, zu welchem auch Gemeinden zählten, wenn sie Unternehmen wären. mrbhg.com

Marcel Bernhardsgrütter lebt in der Schweiz und ist Co-Pastor und Church Consultant mit über zwanzigjähriger Erfahrung als leitender Mitarbeiter in zahlreichen Dienstbereichen verschiedener Landes- und Freikirchen sowie als Manager im Dienstleistungssektor. Er begleitet Gemeindeleiter in Veränderungsprozessen und Führungsfragen als Sparringspartner an ihrer Seite. http://www.mrbhg.com