GEMEINDELEBEN Der Experte für Gemeindeentwicklung Christian A. Schwarz hat 75.000 Kirchengemeinden in 86 Ländern untersucht. Im idea-Interview stellt er seine neuesten Erkenntnisse vor. Mit ihm sprach Karsten Huhn.
idea: Herr Schwarz, Sie sehen das Christentum in einem dramatischen Wandel. Was hat sich verändert?
Schwarz: Weltweit ändert sich die Beteiligung von Christen am Gemeindeleben, zum Beispiel die Teilnahme an Gottesdiensten oder Kleingruppen, dramatisch. Das ist nicht nur in Hamburg oder Chicago so, sondern auch in Südkorea und Ost-Malaysia. Wenn ein super-engagiertes Gemeindemitglied vor acht Jahren vielleicht fünfmal im Monat einen Gottesdienst besucht hatte – alle vier regulären Gottesdienste und einen Sondergottesdienst –, dann tut es das heute noch dreimal. Und wer früher einmal im Monat den Gottesdienst besuchte, tut es heute vielleicht nur noch einmal im Vierteljahr. Das heißt nicht unbedingt, dass die entsprechenden Gemeinden insgesamt weniger Menschen erreichten als vorher. Aber die Menschen, die erreicht werden, besuchen weniger regelmäßig die Gottesdienste. Im statistischen Durchschnitt schlägt sich das dann in Form von schrumpfenden Zahlen nieder.
Warum haben die Christen weniger Lust auf Gottesdienst und Gemeinde?
Zum einen liegt das an hausgemachten, gemeindeinternen Faktoren: In vielen Gemeinden stimmt die Qualität des gemeindlichen Lebens nicht. Allerdings hat die Qualität der von uns untersuchten Gemeinden in den letzten Jahren global gesehen keineswegs abgenommen. Was sich verändert hat, sind die Auswirkungen der Qualität auf zahlenmäßiges Wachstum. Diese Auswirkungen sind immer noch deutlich messbar, aber fallen geringer aus als noch vor acht Jahren. Zum anderen hat sich der Kontext weltweit verändert: Die Menschen wählen ihre Gemeinde und auch ihre Denomination heute sehr viel kritischer aus als noch vor wenigen Jahren. Sie sind es gewohnt, mit Smartphone und Internet ständig zu vergleichen und sich stets das auszusuchen, was sie für „das Beste“ halten.
Dann würden die Leute nicht weniger in den Gottesdienst gehen, sondern einfach dorthin, wo es ihnen am besten gefällt.
Ja, zum Beispiel in einen anderen Gottesdienst als dem der eigenen Gemeinde, oder sie machen von nichtkirchlichen Angeboten Gebrauch – häufig über das Internet –, die ihren Bedürfnissen ebenso gut oder sogar besser entsprechen. Das ist ja an sich kein verwerfliches Verhalten. Heute drückt sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft bei vielen Menschen deutlich anders aus als noch vor zehn Jahren. Die nichtvirtuelle Gemeinschaft, also Menschen, mit denen man Zeit verbringt, die man umarmen kann, mit denen man in der realen Begegnung Gefühle austauscht, sinkt in ihrer Bedeutung. Vieles davon findet heute virtuell über Facebook, Whatsapp und Twitter statt. Anstatt selbst einen Gottesdienst mit dem Ortspfarrer zu besuchen, lädt man sich lieber per YouTube-Video einen Star-Prediger ins Haus. Für das persönliche geistliche Wachstum – zum Teil auch für die eigene Unterhaltung – suchen heute viele nach maßgeschneiderten Angeboten.
Wie soll die durchschnittliche Ortsgemeinde darauf reagieren?
Die Arbeit an der eigenen gemeindlichen Qualität bleibt – im Licht unserer Untersuchungen – der entscheidende Faktor. Darüber hinaus sollten Gemeinden überprüfen, ob die von ihnen primär propagierten geistlichen Stile zu den geistlichen Bedürfnissen der Menschen in ihrer Nachbarschaft passen. In unserer Arbeit haben wir ein Modell von neun geistlichen Stilen entwickelt (siehe Abbildung S. 18). Keine Gemeinde kann alle neun Stile in gleicher Qualität abdecken. Sie darf also ruhig einseitig sein, mit dem besten Gewissen. Aber gibt es in der Region auch Angebote für Menschen, die ein anderer Stil anspricht? Idealerweise könnte man sie an eine Gemeinde in der Nachbarschaft vermitteln, die ein anderes Profil hat. Es ist jedenfalls nicht sinnvoll, wenn alle Kirchengemeinden das gleiche Angebot machen. Das wäre Monokultur. Jede Monokultur ist wachstumshinderlich.
Sollten Gemeinden möglichst viele Stile ansprechen?
Für kleine Gemeinden ist das – jedenfalls im Blick auf den Gottesdienst – nur sehr schwer zu realisieren. Und die allermeisten Gemeinden sind klein – Gott liebt offensichtlich kleine Gemeinden ganz besonders, sonst hätte er nicht so viele von ihnen gemacht. Eine Gemeinde, die versucht, im Gottesdienst alle geistlichen Stile in gleicher Weise zu bedienen – von hochsakramental bis charismatisch-enthusiastisch –, würde unweigerlich ein Gottesdiensterlebnis schaffen, das für niemanden mehr ansprechend ist. Wer würde es schon genießen, wenn Choräle mit Schlagzeug begleitet würden? Auf persönlicher Ebene allerdings – nicht unbedingt über Gottesdienste – kann man viel mehr Menschen in ihrem jeweiligen geistlichen Stil unterstützen, als es heute geschieht.
Quelle: IdeaSpekrum Nr. 4, Januar 22,2020