Wie kann ich ehrenamtlich Engagierte begeistern und wie können sie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen?

Herbst: Meine prägende Lebenserfahrung war, dass wir als junge Erwachsene im CVJM Vertrauen spürten und immer ein kleines Stück über unsere Komfortzone hinaus herausgefordert wurden. Dabei wurden wir auch nicht allein gelassen. Wir konnten etwas probieren – und hatten Erfahrenere an der Seite, um uns beraten zu lassen. Diese Erfahrung als 18, 20-Jähriger hat mich bis heute geprägt.

Jetzt erlebe ich es wieder als Ehrenamtlicher in unserer Kirchengemeinde: Die zieht Menschen an, die spüren: Hier kann ich mich einbringen, meine Grenzen werden respektiert, aber eben auch meine Begabungen und meine Lebenserfahrung. Dazu kommt, dass Menschen aktiv angesprochen werden. Es ist ein feiner Unterschied zwischen dem ›Notnagel‹ (s.o.) und der Aufbruchsstimmung: »Hej, wir haben nur noch eine halbe Pfarrstelle, aber welche Chance ist das für uns, jetzt das zu tun, was immer schon das Bessere gewesen wäre: begabte, nicht betreute Gemeinde!«

Was würden Sie Gemeinden raten, die sich jetzt für die Zukunft fit machen wollen?

Herbst: Das ist eine sehr große Frage. Pauschale Antworten sind immer riskant, aber gut:

  1. Nutzt jede Gelegenheit, miteinander gemeinschaftlich das Evangelium zu hören, zu teilen und zu feiern!
  2. Überlegt miteinander, was das Leben Eurer Gemeinde ausmacht: Wie wollt IhrGottesdienst feiern? Wie lebt Ihrchristliche Gemeinschaft? Wie wollt Ihr in Eurem Sozialraum den Menschen dienen? Wie ladet Ihr andere zum Glauben ein (von Kindern und Jugendlichen über die vom Evangelium Unerreichten bis hin zu denen, die als Gäste und seltene Besucher hinzukommen)?

  1. Investiert in die geistliche und praktische Bildung der Gemeinde: Wir brauchen Bildung für das Leben in der Nachfolge Christi, für die Mitwirkung im Aufbau der Gemeinde, für ehrenamtliche Führungskräfte.
  2. Macht Euch für Eure Weise, Gottes Liebe zu feiern, unabhängig von der Frage, ob Hauptberufliche da sind und Zeit haben.
  3. Bleibt örtlicheGemeinschaft im Glauben, Lieben und Hoffen! UND: Arbeitet mit anderen Gemeinden in der Regionzusammen, so dass niemand alles tun muss, viele manches zusammen tun und alle zusammen in der Region vieles für unterschiedliche Menschen anbieten können.

Bei allem, was die Kirche derzeit so erlebt: Haben Sie trotzdem noch Hoffnung?

Herbst: Zu schnell kann ich jetzt nicht das erhoffte ›ja, natürlich!‹ sagen. Denn Kirchen als menschliche Gebilde können sterben. Wir müssen schon begreifen, dass wir in einer kritischen Lage sind. Der Leib Christi auf Erden wird nicht sterben; er wird sich hier und dort immer wieder neu bilden und frisch aufstellen. Die Chance, dass unsere Kirche dabei ist, ist uns gegeben. Wir gefährden sie durch Selbstsicherheit ebenso wie durch Verzweiflung. Meine Hoffnung ist auch nicht, dass wundersamerweise alles wieder so wird wie früher. Wir ergreifen unsere Chance, indem wir uns um das Christus-Evangelium sammeln, um Erneuerung beten, das Vitale schützen, das Überlebte und Überfordernde ablegen, Neues wagen und wieder bei Christus einkehren und auf ihn hoffen: Wohin ruft er uns, und was ist an seiner Seite zu tun?

Interview mit Michael Herbst Midi Magazin 17.12.24

Prof. Dr. Michael Herbst, emeritierter Professor für Praktische Theologie und zuletzt Direktor des Institutes zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) an der Universität Greifswald