Thomas Härry
In Leitungsseminaren vertrete ich mit wachsender Überzeugung: Wer leitet (etwa eine Gemeinde), begibt sich in eines der effektivsten Persönlichkeitstrainings, das unter dem Himmel existiert. Es lockt uns aus der Reserve – zeigt uns, wer wir wirklich sind – führt uns vor Augen, was wir wirklich können und was weniger.
Leiten bringt uns weiter! Vorausgesetzt, wir wollen dies und verstehen, wie wichtig unser eigenes Geformtwerden in Glaube und Persönlichkeit dabei ist: Bleibende Frucht im Sinne der Bibel haben Leitende, die verstehen, dass die Arbeit an ihrer eigenen Seele wichtiger ist als ihre Arbeit an den Seelen Anderer – oder an Strategien und Anlässen. Nur wer selber weiterkommt, kann andere weiter bringen. Wer stehen bleibt, lässt auch diejenigen stehen, die er führen soll – formaler Leitungsauftrag hin oder her.
Führungskräfte liegen mir am Herzen, besonders in der Kirche tätige. Wenige steigen mit so viel Leidenschaft, Antrieb und Hoffnung in ihre Führungsaufgabe ein wie sie. Allerdings sind einige von ihnen ein paar Jahre später so ernüchtert, frustriert und entmutigt, dass von der alten Frische nicht viel geblieben ist. Leitende in Kirchen brauchen deshalb besonders viel Zuspruch, Zurüstung und praxisrelevantes Training. Schon wenig kann viel helfen. Zum Beispiel die folgenden 5 Realitäten, die jeder kennen sollte, der in einer Kirche Verantwortung trägt – in pastoraler oder ehrenamtlicher Leitungsfunktion. Wer sich früh in seinem Dienst mit diesen unvermeidbaren Realitäten versöhnt, verliert weniger den Mut. Natürlich, der Leiter selbst soll alles daran setzen, dass er diese Realitäten nicht durch unsensibles Verhalten selbst hervorruft. Doch selbst dort, wo er dies nicht tut, wird es sie geben.
Leute kommen – Leute gehen
Nirgends geschieht das so häufig und unverfroren wie in Kirchen: Leute kommen zur Gemeinde, weil sie die Leiter, den Gottesdienst, das Kinderprogramm oder die Anbetungszeiten toll finden. Gleichzeitig melden sich am selben Ort Leute ab, weil sie die Leiter, den Gottesdienst, das Kinderprogramm oder die Anbetungszeiten schlecht finden. Mit dieser simplen Realität müssen Leitende leben und lernen, sich davon nicht persönlich verletzen zu lassen. Sie erleben dasselbe wie das Publikum eines Strassenumzugs: Leute kommen und Leute gehen …
Diejenigen, die am meisten erwarten, bringen sich selbst am wenigsten ein
Auch das ist ein typisches Gemeindephänomen. Die lautesten Kritiker sind manchmal die passivsten Gemeindeglieder. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar. Wer sich selbst kaum einbringt, für den ist umso wichtiger, dass der Service stimmt und die Leitenden bieten, was er braucht (oder sich wünscht). Leitende müssen lernen, zu unterscheiden: Sie sollten die Verbesserungsvorschläge und kritischen Rückmeldungen derer, die sich von Herzen einbringen, ernster nehmen als alle anderen. Die Ausnahme: Wenn es um die Frage geht, wie manche Angebote auf neue Besucher wirken. Da ist es weise, nicht zu stark auf Insider zu hören.
Einige verhalten sich wirklich übel
Leider auch Christen. Ein erfahrener Pastor sagt mir einmal: „Stell dich darauf ein, dass es in jeder Gemeinde zwei, drei Menschen gibt, die dich loswerden wollen. Sie werden alles tun, um dich zu sabotieren.“ Leitende müssen lernen, mit diesen Menschen umzugehen. Das Wichtigste dabei ist, dass sie niemals auf deren eigene Ebene gehen, sich niemals rächen, niemals verleumden, niemals Andere fertig machen, auch wenn diese es ihnen gegenüber tun. Das ist kein Appell zum einer Softie-Leiterschaft. Denn gleichzeitig ist es wichtig, dass sie entschlossen führen, Grenzen setzen, sich nicht alles gefallen lassen. Eine enorme Balance! Darum ist es so wichtig, dass Leitende geistlich und persönlich reife Menschen sind.
Du bist nicht zu ersetzen (in der Gemeinde allerdings schon)
Es war Martin Buber, der einmal sagte: „Jeder Mensch hat auf dieser Erde eine Rolle und eine Aufgabe, die niemand anderes so wie er ausfüllen kann.“ Ja, jeder Mensch und jeder Christ ist einzigartig und hat einen einzigartigen Platz auf dieser Welt. Keiner kann ihn ersetzen, keiner die Dinge genauso tun. Deswegen sollten allerdings Leitende nicht meinen, das gelte überall und immer. Unsere Friedhöfe sind voll von unersetzlichen Leitern. Jeder Pastor sollte schon am ersten Tag in der neuen Gemeinde wissen: „Von heute an ist all mein Tun eine Vorbereitung zur guten Weitergabe dieser Verantwortung, die mir temporär gegeben ist. Eines Tages übernimmt das hier ein Anderer.“
Sei in erster Linie ein „Wortarbeiter“
Es ist faszinierend, was die Gemeindebauliteratur jedes Jahr an guten, hilfreichen Modellen und Aufgabenbeschreibungen für Leitende hervorbringt. Toll, dass Pfarrpersonen heute viel mehr als früher als tatsächliche Führungskräfte angesehen werden und viel Anleitung dafür bekommen. Dennoch sollten sie sich eines nicht nehmen lassen: Ihr wichtigstes Führungsinstrument ist keine Führungstechnik – es ist die sorgfältige Auslegung der Bibel in Predigt, Seelsorge und Lehre. Keine Gemeinde kann wirkliche Kraft entwickeln, wenn die dazu gehörenden Menschen keine in der Bibel verwurzelten Personen sind. Darum ist die „Wort-Arbeit“ die wichtigste Funktion für Leitende von Kirchen. Diese Speerspitze sollten sie sich niemals rauben lassen.
Quelle: www.der-leiterblog.de
Thomas Härry, Jahrgang 1965, wohnt mit seiner Frau und 3 Töchtern in Aarau (Schweiz). Er ist Fachdozent für „Neues Testament“ und „Leiterschaft“ am Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau. Autor verschiedener Bücher und Referent.
Seine Bücher sind sehr gefragt und eine Übersicht findet sich hier
http://www.scm-brockhaus.de/index.php?id=brockhaus-suche&no_cache=1&tx_scmshopproductsearch_pi3%5Bsubmit%5D=1&x=0&y=0&tx_scmshopproductsearch_pi3%5Bsearch%5D=Thomas+H%E4rry.