Rückblick

Früher kannte ich chronische Krankheit nur vom Hörensagen. Dass ich mal davon betroffen sein könnte, war nicht auf meinem Radar. Doch das änderte sich und ich musste Wege finden, auch als kranker Mann ein gutes Leben zu führen und zu erkennen: Chronische Krankheit disqualifiziert dich nicht vom Leben!

Ich war ein aktiver Mann um die 40, ständig auf Achse. Engagiert in meiner Ehe, mit unseren vier Jungs und im Beruf als Pastor. Solange ich zurückdenken kann, war es mir wichtig, etwas „am Laufen“ zu haben. Beim Sport ging ich immer etwas über meine Grenzen. Sobald der Anstieg überwunden war, schaltete ich wieder einen Gang höher. Wenn mich beim Langlauf-Skating jemand überholte, ärgerte mich das unglaublich. Es war mir immer wichtig, mein Allerbestes zu geben. Gott sollte begeistert auf mein diszipliniertes Leben schauen und mir dabei lobende Worte zurufen. Unbewusst wollte ich durch meine Leistung mich selbst und andere beeindrucken und von Gott Anerkennung erhalten.

Meine Predigten sollten nicht bloß inspirieren, nein, sie mussten Leben verändern. Telefongespräche führte ich am liebsten über die Freisprechanlage während einer Autofahrt: Das sparte Zeit und sollte dem Gesprächspartner vermitteln, wie beschäftigt und wichtig ich war. Eine E-Mail musste am besten sofort und sonst spätestens bis Feierabend beantwortet sein. Am liebsten aber frühmorgens, damit der Empfänger sehen konnte, dass ich ein fleißiger Frühaufsteher war. Obschon ich mir als Pastor meine Zeit frei einteilen konnte, war ich ständig gestresst. Morgens verließ ich das Haus als Erster, obwohl ich auch eine Stunde später hätte gehen und meine Familie bei den täglichen Vorbereitungen hätte unterstützen können. Aber die vermeintlich dringenden Termine riefen lauter als die Wünsche meiner Liebsten. Und an meine eigenen Bedürfnisse dachte ich damals so gut wie nie.

Fehlende Grenzen 

Damit kein falscher Eindruck entsteht, muss ich anfügen, dass mir meine Familie auch früher schon sehr wichtig war! Allerdings habe ich nie gelernt, mich abzugrenzen. Deshalb gingen mir die schulischen und zwischenmenschlichen Probleme unserer vier Jungs sehr nahe. So nahe, dass ich mich davon distanzieren musste … Ich befürchtete, dass mich die familiären Herausforderungen sonst überfordern würden.

Außerdem sollte die Ehe zu meiner wunderbaren Frau beispielhaft sein: Es war mein Ziel, dass andere Ehepaare an unserem Vorbild Hoffnung schöpfen konnten. Natürlich kann das ein positiver Effekt einer guten Ehe sein. Aber damals lag mein Fokus meistens außerhalb meiner eigenen und unserer ehelichen Bedürfnisse. So war mein Mangel an persönlichen Grenzen auch in unserer Ehe ein ernstes Problem. Obwohl ich mich bemühte, oft anwesend zu sein, fehlte die emotionale Nähe zwischen uns.

Ich hatte schlichtweg keine wirkliche Beziehung zu mir selbst und hielt mein Herz ständig verschlossen, um unangenehmen und überwältigenden Emotionen aus dem Weg zu gehen. Ich war ein klassisches Beispiel für einen Ehemann und Vater, der zwar äußerlich anwesend, innerlich aber abwesend war. Wenn sich eine Türe auftat, ging ich hindurch – denn jede neue Möglichkeit war eine Chance, die nicht verpasst werden sollte! Dabei prüfte ich nicht, ob der Zeitpunkt passte oder ob ich und meine Familie über die notwendigen Ressourcen verfügten.

Eine weitere Erwartung an mich selbst war viele Jahre lang, immer gut gelaunt und top-motiviert zu sein. Für zögernde und zurückhaltende Personen hatte ich darum wenig Verständnis. Heute ist mir klar, dass ich mir ein Beispiel an denen hätte nehmen sollen, die ihre Grenzen kannten und Zugang zu ihrer Gefühlswelt hatten. Meine übermenschlichen Erwartungen von damals fühlen sich heute erdrückend an. Eigentlich ist es kein Wunder, dass mir mein Körper an einem gewissen Punkt den Dienst versagte …

Damals lebte ich, als müsste ich Gott, mir selbst und der Welt etwas beweisen. Dann kam der Crash, der sich schon über mehrere Jahre ankündigte. Leider waren mir damals die Ausdrucksformen meines Körpers noch eine Fremdsprache: Fühlte ich mich schwach, strengte ich mich noch mehr an und erstickte so den körperlichen Hilfeschrei im Keim.

Und plötzlich geht nichts mehr

Es begann im Herbst 2018: Ich war ständig müde, schlief regelmäßig zehn Stunden und fühlte mich auch mit einem zusätzlichen Mittagsschlaf nie erholt. Beim Joggen schienen meine Füße auf der Straße zu kleben, die Muskeln schmerzten. Eines Morgens war ich so schwach, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. „Burn-out!“, war nicht nur mein erster Gedanke. Auch mein Umfeld war überzeugt, dass mein Körper meinen übersteigerten Erwartungen nicht mehr nachkommen wollte. Doch abgesehen von den physischen Beschwerden ging es mir gut. Nach einem vierwöchigen Time-out im Bett konnte ich mich wieder aufrappeln. Unter großer Anstrengung versuchte ich so weiterzumachen, wie ich es von früher gewohnt war. Aber es war unmöglich.

Meine Leistung reduzierte sich dauerhaft auf ca. 60 Prozent und trotz viel Schlaf erholte ich mich nicht mehr. „Das ist halt so, wenn du 40 Jahre alt bist“, war ein verzweifelter Versuch, das Unerklärliche einzuordnen. Dass der Körper alterte und an Kraft verlor, konnte ich akzeptieren. Aber so krass? Und in so kurzer Zeit? Das konnte nicht sein! Meine Frau und ich suchten Hilfe bei Ärzten, Naturheilpraktikern, Therapeuten und Seelsorgern. Als jemand für mich betete, bekam ich folgende Verheißung aus Hesekiel 36,11: „Ich will mehr Gutes für euch tun als je zuvor.“ Voller Erwartung, all dies „Gute“ zu empfangen, wurde alles nur noch schlimmer: Die Krankheit kam mit noch größerer Wucht zurück!

Der zweite große Crash folgte Anfang 2020. Meine tägliche Energie musste ich so einteilen, dass sie für Körperhygiene, den Gang aufs WC und zum Essen reichte. In meiner Funktion als Pastor musste ich mich auf die notwendigsten Arbeiten fokussieren, die ich dann im Bett liegend zu bewältigen versuchte. Obwohl auch die ärztlichen Abklärungen mühsam waren, wollte ich die Wurzel dieses Übels finden, um sie auszureißen und dann ungehindert wieder dort weiterzumachen, wo ich hatte aufhören müssen.

Die Diagnose

Am 6. März 2020 formulierte es ein behandelnder Arzt so: „Es besteht ein hochgradiger Verdacht auf ‚Chronisches Fatigue Syndrom‘ (CFS).“ Diese eher unterschätzte Krankheit bedeutet eine Fehlfunktion des Immun- und Nervensystems und zeigt sich in beständiger Müdigkeit, Reizanfälligkeit, grippalem Gefühl, Schmerzen und Schwächezustand. Nach Belastung nehmen die Beschwerden zu. Meine ersten Gedanken dazu: „Eine chronische Krankheit? Bei mir? Unmöglich! Dann muss es doch ein Burn-out sein.“ Doch die Psychologin schloss diesen Verdacht aufgrund meiner stabilen Psyche aus. Ich musste mich damit abfinden, dass Gott meine Leistungsgrenze nun deutlich zurückgestuft hatte.

Obwohl ich etwas erleichtert war, endlich eine Diagnose und damit einen Anhaltspunkt zu haben, war ich hauptsächlich frustriert! Ich war hin- und hergerissen: Auf der einen Seite wollte ich die Hoffnung auf ein Heilungswunder nicht aufgeben, auf der anderen Seite bestand die Möglichkeit, dass Gott mir und meiner Familie diesen Zustand auf unbestimmte Zeit zumuten könnte. Meine Frau und ich sind auch heute entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um meine Gesundheit zu stärken und darauf zu vertrauen, dass Gott das tun wird, was außerhalb unserer menschlichen Grenzen liegt. Ich besuche regelmäßig Ärzte, habe Sitzungen mit meiner Psychologin, lasse mich von einem christlichen Naturheilpraktiker beraten und lasse für mich beten. Gleichzeitig will ich vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint – so oder so.

Chronische Krankheit disqualifiziert dich nicht

Ich will mich nicht als „Kranken“ bezeichnen. Lieber benenne ich meine Symptome (Schwäche, Schmerzen, bleierne Müdigkeit), denn die Krankheit bestimmt nicht meine Identität. Zwar ist sie da und ihre Symptome sind real, allerdings nur temporär und für eine von Gott festgesetzte Zeit. Sie beeinträchtigt meine Leistung, ich bin körperlich kraftlos und habe Schmerzen, aber sie verändert nicht, wer ich bin und auch nicht meine unersetzbare Rolle in Gottes Familie. Ich muss mir das selbst immer wieder sagen, denn meine spontane Reaktion auf die Schwäche war die Angst, dass Gott mich nicht mehr gebrauchen kann. Ich glaube, dass viele Menschen mit einer Krankheit diese Angst kennen. Sie sehen sich nicht mehr als aktiven Teil des Teams auf dem Spielfeld, sondern passiv zuschauend auf der Ersatzbank. Sie glauben nicht, dass sie in der Verfassung sind, etwas Wertvolles zu Gottes großem Plan mit uns Menschen tragen zu können.

Jeder ist wertvoll

Diese Reaktion auf Schwäche ist menschlich, darf aber kritisch hinterfragt werden. Wir verbinden unseren Platz in „Gottes Mannschaft“ oft mit einer konkreten Leistung oder einem aktiven Dienst. Allerdings sind wir so oder so Teil des Teams! Wir sind geliebte Kinder Gottes, ganz egal, ob gesund oder mit Krankheit, ob leistungsstark oder auf fremde Hilfe angewiesen! Gott hat jedem Menschen die Fähigkeit gegeben, mit ihm in Verbindung zu treten. Und mit dieser Beziehung zum himmlischen Vater hat jedes Gotteskind eine wertvolle Rolle in Gottes Familie.

Die Bibel macht deutlich, dass leidende Christen durch ihr anhaltendes und unerschütterliches Vertrauen auf Gott zu leuchtenden Vorbildern werden. Ist es nicht eine große Chance, Gott auch in Leid und Krankheit treu zu bleiben und so ein Vorbild für andere zu werden? Könnte es sein, dass wir, die wir durch Krankheit und Leid gehen und trotzdem in einer vertrauensvollen Beziehung zu Gott bleiben, eindrückliche Glaubensvorbilder sind? Sicher ist, dass jeder Leidende einen besonderen Auftrag von Gott erhalten hat.

Reto und seine Frau Corinne gründeten im Jahr 2002 die ICF-Gemeinde in St. Gallen, Schweiz. Sie haben vier Kinder. Irgendwann im Jahr 2024 werden Reto und Corinne ihre Ämter als leitende Pastoren der ICF-Kirche aufgeben.. Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus seinem Buch Mit ganzer Kraft schwach. Gottes Stärke und unser Glaube, wenn Heilung ausbleibt“ (SCM R.Brockhaus).

Außerdem kannst du einen von Reto geschriebenen Artikel bei “Livenet.ch” mit dem Titel lesen: „Wenn die Heilung ausbleibt.